Gutshaus | Herrenhaus Viecheln © Historische Häuser

Herrenhaus Viecheln in Mecklenburg-Vorpommern

Am nördlichen Rand Mecklenburgs, unweit der Grenze zu Vorpommern, liegt das neugotischen Herrenhaus Viecheln. Das dortige Gut kann auf eine lückenlos nachweisbare Besitzgeschichte zurückblicken, die bis ins frühe 17. Jahrhundert reicht. Die Wurzeln von Gut Viecheln liegen im mecklenburgischen Uradel, seine Blütezeit fällt in das 19. Jahrhundert, als eine Lübecker Kaufmannsfamilie das heutige Herrenhaus entstehen ließen, das bis heute das Bild des Anwesens prägt.

Das Dorf Viecheln, heute ein Ortsteil der Gemeinde Behren-Lübchin im Landkreis Rostock, liegt eingebettet zwischen Trebel, Recknitz und Warbel, deren Siedlungsspuren bis in die Vorgeschichte zurückreichen. Tatsächlich reicht die Geschichte menschlicher Präsenz hier über die schriftlich dokumentierte Gutsgeschichte hinaus: So wurde südlich des Ortes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Großsteingrab entdeckt, eine megalithische Grabanlage der jungsteinzeitlichen Trichterbecherkultur (ca. 3500–2800 v. Chr.). Zwar wurde das Grab um 1850 beim Bau der Straße zwischen Gnoien und Tessin zerstört, doch einige Fundstücke blieben erhalten. Damit wird deutlich: Viecheln war über Jahrtausende ein besiedelter, kultisch genutzter Ort, lange bevor es in den schriftlichen Quellen als Gut auftaucht.

In einigen spätmittelalterlichen Urkunden werden Viecheln und die Familie Moltke bereits im 15. Jahrhundert genannt. So soll laut einer Urkunde von 1465 der mecklenburgische Landrat Otto Moltke zu Strietfeld u. a. das Gut Viecheln als Pfandbesitz von Claus Moltke übernommen haben. Eine weitere Überlieferung von 1473 nennt Lütke Moltke zu Strietfeld, der Viecheln und andere Besitzungen von Gertrud (Trude), der Witwe von Clawes Moltke und Tochter von Gerdt Basse zu Dalwitz, als Pfand erwarb. Die Echtheit dieser frühen Dokumente ist jedoch umstritten: Die Forschung verweist auf den sogenannten „Ulenogeschen Fälschungskomplex“ (vgl. Wilhelm Ulenoge und seine Fälschungen, Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 66, 1901).

Die lückenlose und gesicherte Gutsgeschichte beginnt daher erst 1627, als ein weiterer Otto von Moltke als Besitzer geführt wird. Die von Moltkes gehörten zum uradeligen Kern des mecklenburgischen Landadels und hatten in der Region um Rostock weit verzweigte Besitzungen. Mit ihnen dürfte auch ein erster einfacher Park im barocken Sinne im 17. Jahrhundert angelegt worden sein.

Im 18. und frühen 19. Jahrhundert ging das Gut mehrfach in den Besitz verschiedener Familien über. Nach Martin Wendt (bis 1789) erwarben die der mecklenburg-schwerinische Major a. D. Balthasar Georg von Hanneken (1744-1826) gemeinsam mit seinem Bruder Gebrüder von Hanneken das Anwesen (1789–1803) und hielten es mit Unterbrechung auch von 1808 bis 1812. 1810 wurde hier der preußische Generalleutnant Bernhard August Carl Hermann von Hanneken (1810 – 1886) geboren.  Dazwischen lag eine kurze Besitzzeit der Familie von Boddin. Ab 1812 gehörte Viecheln dem Regierungsrat Ernst Heinrich Friedrich von Bülow (1765-1849) zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Friederike Ernestine Sofie (geb. von Lowtzow), einem Angehörigen einer weitverzweigten Beamten- und Adelsfamilie. Unter ihm wurde das Gut über drei Jahrzehnte geführt. Ab 1845 war Friedrich Karl Ferdinand von Schuckmann (1802-1874) und seine Ehefrau Friederike Karoline Luise von Schuckmann (geb. von Bülow) Gutsbesitzer, ein Vertreter einer pommerschen Adelsfamilie, die insbesondere im Raum Uckermark und Mecklenburg zahlreiche Güter hielt.

Einen tiefgreifenden Wandel markierte der Übergang an die Familie Blohm im Jahr 1864/1865. Georg Friedrich Blohm (1801–1878), ein erfolgreicher Fernhändler mit Sitz in Venezuela und Lübeck, erwarb das Gut für seinen dritten Sohn Wilhelm Eduard Blohm (1840–1915). Die Familie stammte ursprünglich aus Lübeck, wo sie seit dem frühen 17. Jahrhundert als Brauer und Kaufleute tätig war. Georg Blohm hatte in der Karibik ein Handelsunternehmen gegründet, das zu den größten seiner Zeit in Venezuela zählte.

Wilhelm Eduard ließ hier zusammen mit seiner Ehefrau Emilie Blohm (geb. Dettmer) ab 1868 ein neues Herrenhaus errichten, ein repräsentativer Neubau im Stil der englischen Tudorgotik, geplant vom angesehenen Wismarer Architekten Heinrich Gustav Thormann (1816–1890). Zwei Jahre später entstand ein großzügiger Wintergarten, der sich harmonisch in das Ensemble einfügt und bis heute erhalten ist. Parallel zur Errichtung des Hauses wurde auch der alte Gutspark neu gestaltet. Zwar lässt sich eine gärtnerische Anlage bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen, doch unter Blohm wurde er im Stil des englischen Landschaftsgartens umgestaltet mit geschwungenen Wegen, seltenen Gehölzen und bewusst gesetzten Blickachsen. Einige Bäume, darunter eine mächtige Blutbuche, sind über 250 Jahre alt und stehen heute unter Denkmalschutz.

Das Herrenhaus Viecheln gehört zu den überzeugendsten Beispielen für Tudor-Neugotik in Mecklenburg. Der zweigeschossige, neunachsige Putzbau ruht auf einem rustikalen Sockelgeschoss und wird von einem charakteristischen, fünfgeschossigen Turm mit spitzem Dach überragt. Der Turm befindet sich im Mittelrisalit des Gebäudes und verleiht der symmetrischen Anlage ein vertikal betontes, beinahe schlossartiges Erscheinungsbild. Mehrere Uhren an der Turmfassade verstärken den Eindruck funktionaler Bedeutung und waren Ausdruck eines neuen Zeitverständnisses im Zeitalter der Industrialisierung. Die leicht gegeneinander versetzten Seitenflügel geben dem langgestreckten Baukörper Tiefe und Dynamik. Der rechte Flügel ist besonders reich gegliedert: mit Strebepfeilern, Fialen und einem bekrönenden Dachaufsatz. Zur Parkseite hin befindet sich ein polygonaler Wintergartenanbau mit geschwungenem Treppenaufgang, ein elegantes Detail, das die private Nutzung unterstreicht. Unter der Dachtraufe läuft ein feines Zahnfries, kleine Luken und gotisierende Fensterrahmungen ergänzen das Bild. Das Eingangsportal, unterhalb des Turmes gelegen, ist gotisch überformt und reich profiliert. Es nimmt Motive des Mittelalters auf, wie sie im Historismus des 19. Jahrhunderts beliebt waren, und schafft einen angemessenen Auftakt zum herrschaftlichen Inneren.

Wilhelm Eduard Blohm bewirtschaftete das Gut bis zu seinem Tod am 2. Oktober 1915. Ihm folgte sein Sohn Georg Thomas Blohm (1885–1944) zusammen mit dessen Ehefrau Louise (geb. Webber), der den Besitz durch die wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Weimarer Republik führte. Im Juni 1944 verunglückte Georg Thomas bei einem Reitunfall schwer und verstarb einige Tage später, wenige Monate vor der Enteignung des Gutes im Herbst 1945 durch die sowjetische Besatzungsmacht im Rahmen der Bodenreform. Die Familie wurde vertrieben, das Inventar des Hauses geplündert. Die Familiengrabstätte der Blohms befindet sich bis heute auf dem Friedhof der Kirchgemeinde Behren-Lübchin.

Wie viele Gutshäuser in Mecklenburg diente auch das Herrenhaus Viecheln in der Nachkriegszeit verschiedenen Funktionen. Zunächst bot es Flüchtlingen eine Unterkunft. Später waren ein Kindergarten, eine Gaststätte und Büroräume in dem Gebäude untergebracht. Zwar wurde der historische Bau so weitergenutzt, doch gingen zahlreiche Elemente der ursprünglichen Ausstattung verloren. Nach der Wiedervereinigung wurde das denkmalgeschützte Gebäude zunächst von der Gemeinde Viecheln übernommen. Ab 1995 begannen umfassende Sanierungsmaßnahmen. Die Räume wurden öffentlich genutzt z. B. für Gemeinderatssitzungen, Feiern und gastronomische Angebote.

Im Jahr 2020 erwarben die heutigen Eigentümer Kevin und Till Kleine-Möller das Herrenhaus und begannen damit, dem Gebäude seine Würde und Ausstrahlung schrittweise zurückzugeben. Das Herrenhaus wird nun für kulturelle Veranstaltungen genutzt.

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